Botschaft des Lutherischen Weltbundes zum Karfreitag 2022

Gott zwischen den Übeltätern
Botschaft zu Karfreitag von Pröpstin Astrid Kleist


„Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt
Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit
ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken.“ (Lk 23,33)
Wenige nüchterne Worte genügen dem Evangelisten Lukas, um eine der grausamsten
Hinrichtungsarten im Römischen Reich zu beschreiben; zur Abschreckung angewandt
gegen Kriminelle und Aufständische. Ein öffentliches qualvolles Sterben, für alle anzusehen – Zeichen der Macht in einer unfriedlichen Welt.
Für die aufs Kreuz gelegten gab es kein zurück. Sie waren bis zum bitteren Ende
festgenagelt – fixiert auf das, was sie gesagt und getan hatten. Und Jesus? Ein Verbrechen war es, ihn unschuldig hinzurichten. Im tiefen Vertrauen und in Treue zu
Gott hatte er gelebt.
Jesus am Kreuz ohne Schuld, neben ihm zwei Übeltäter. Der eine voll Spott: „Hilf
Dir selbst und uns!“. Der andere voll Staunen: „Dieser hat nichts Unrechtes getan.
Jesus, gedenke mein, wenn Du in dein Reich kommst.“ (Lk 23,41-42)
Die Logik des Aufrechnens, des Gebens und Nehmens, ein Gottesbild, gezeichnet
aus menschlicher Leistungsgerechtigkeit, ergibt keinen Sinn mehr, wo der Gerechte
neben dem Missetäter Strafe erleidet.
Dem einen neben Jesus dämmert es: „Wir empfangen, was unsere Taten verdienen;
dieser aber hat nichts Unrechtes getan.“ Die Illusion von menschlicher Gerechtigkeit,
dem Guten widerfahre Gutes, dem Bösen Böses, ist obsolet. „Du“, sagt Jesus zu dem
Übeltäter neben ihm, „wirst heute mit mir im Paradiese sein.“ Sünder wie Gerechte
erleiden das Kreuz. Doch Jesu Tod zwischen den beiden Übeltätern offenbart Gottes
Gnade. Ein Gott wird sichtbar, der größer ist als unser menschliches Herz.
In den Nachrichten lese ich:
Sergej küsst das blutige Gesicht seines toten Bruders und schluchzt. Eine
russische Rakete hat Igors Kaserne in der Nähe von Mikolajiw getroffen. Er und
Dutzende seiner Kameraden wurden getötet. Igor hatte sich freiwillig gemeldet,
um sein Land zu schützen. Das ist nicht einmal einen Monat her. Galina, seine
Verlobte, ist bei ihren russischen Eltern in Moldawien. Nur Sergej ist da, um
seinen Bruder zu bestatten. Mit einer Schaufel. In der Kaserne, am Rande des
Sportplatzes. Man hört das Donnergeräusch der Geschütze. Sind es die eigenen oder die der Feinde? Sie bringen die gleiche Vernichtung, sie bringen den
Tod. Der nahegelegene Stadtteil Kulbakino, wo Sergej lebt, ist fast menschenleer. Wo man noch vor einem Monat gemeinsam lebte, miteinander russisch
und ukrainisch sprach, gibt es nun kein Leitungswasser mehr, keine Heizung.
Wer konnte, hat sich in Sicherheit gebracht.
Karfreitag bringt das Unrecht vor Gott, das ungerechte Töten und das ungerechte Sterben. Das Leiden Jesu und das Leiden der Menschen wird eins. Passionsgeschichten
allerorten – und mitten darin der Gott der Gnade.
Jesus schreit nicht: „Schaffe mir Recht!“ Stattdessen: „Vater, vergib, denn sie
wissen nicht, was sie tun.“
Diese Worte sind es, die einem der Übeltäter, der mit ihm gekreuzigt wird, die
Augen öffnen. Im Spiegel der Vergebung wagt er den Blick in den eigenen Abgrund,
erkennt sich schuldig.
Auch die Fernen sind Jesus in seinem Leiden nahegekommen. Sie haben ihn
vielleicht anders kennengelernt als die, die ihn näher kannten. Diese, so heißt es bei
Lukas, „alle seine Bekannten“, standen „von ferne.“
Am Ostermorgen werden auch wir dastehen und in unsere eigenen Abgründe und
die Untiefen unserer Zeit schauen. Noch einmal anders werden wir erschrecken: Wie
Gott aus dem Dunkel des Todesschattens zu neuem Leben ruft.


Pröpstin Astrid Kleist von der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland ist
die LWB-Vizepräsidentin der Region Mittel und Westeuropa